Blog der Forschungsstelle
- 1. Februar 2021
- Posted by: medienrecht_user
- Category: Allgemein

22.03.2021
Lucia Burkhardt, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Kölner Forschungsstelle für Medienrecht, TH Köln
Hü oder Hott? – Gegensätzliche Rechtsprechung zweier Landgerichte zu Unternehmensgeldbußen
Probleme bei der Auslegung und Anwendung der DS-GVO gibt es nicht erst seit gestern. Seit Geltung der DS-GVO hat die Aufsicht daher allerhand zu tun. Während es anfänglich vermehrt um Hilfestellungen bei der Klärung offener Rechtsfragen ging, geht es nun zunehmend ums Ganze. Denn die deutschen Datenschutzaufsichtsbehörden sind mittlerweile dazu übergegangen hohe Bußgelder wegen Verstößen gegen die DS-GVO zu verhängen. Eine der drängenden Fragen ist hierbei, ob Unternehmen bei Datenschutzverstößen selbst „Täter“ sein können oder nur die für das Unternehmen handelnden Mitarbeiter. Uneinigkeit herrscht dazu nicht nur in der Datenschutzpraxis und in der Wissenschaft, neuerdings streiten auch die Gerichte mit. Während das LG Bonn die Bebußbarkeit jur. Personen noch bejahte (Urt. v. 11.11.2020 – 29 OWi 1/20), lehnte das LG Berlin eine unmittelbare Verbandshaftung ab und stellte im Februar das millionenschwere Verfahren gegen die Deutsche Wohnen wegen „gravierender Verfahrensmängel“ ein (Urt. v. 18.2.2021 – 526 OWi LG) 212 Js-OWi 1/20 (1/20), 526 OWiG LG 1/20). Vom Tisch ist das Bußgeld hiermit jedoch nicht. Die Staatsanwaltschaft hat Beschwerde eingelegt. Mit etwas Glück erwartet uns also eine höchstrichterliche Klärung der Streitfrage. Denkbar ist sowohl ein Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH als auch eine Befassung des BVerfG, da nichts Geringeres als das Schuldprinzip bzw. das Gesetzlichkeitsprinzip vom LG Berlin ins Feld geführt wurde. Bis dahin braucht es allerdings noch ein wenig Geduld. Es lohnt sich daher die unterschiedlichen Positionen und deren Auswirkungen für die Praxis einmal genauer zu betrachten.
Die Position des LG Bonn
Das LG Bonn geht, wie auch die hiesigen Aufsichtsbehörden, davon aus, die DS-GVO regele die Frage nach der Bebußbarkeit von Unternehmen unmittelbar. Diese Sichtweise beruht im Kern auf der Formulierung des Art. 83 DS-GVO, der als Bußgeldadressat unmittelbar den „Verantwortlichen“ oder „Auftragsverarbeiter“ benennt, und ErwG 150 S. 3 der DS-GVO. Dieser verweist im Zusammenhang mit Unternehmensgeldbußen auf das supranationale Kartellrecht („Werden Geldbußen Unternehmen auferlegt, sollte zu diesem Zweck der Begriff „Unternehmen“ im Sinne der Artikel 101 und 102 AEUV verstanden werden“). Hier haften Unternehmen unmittelbar und selbstständig, es gilt das sog. Funktionsträgerprinzip. Die Anwendung des kartellrechtlichen Haftungsmodells hat zur Konsequenz, dass das Unternehmen für alle Verstöße „aus dem Unternehmen heraus“ haftet, gleichgültig welcher Mitarbeiter gehandelt hat. Einzige Ausnahme ist der Mitarbeiterexzess. Zudem muss die Aufsicht im Bußgeldbescheid nicht die konkrete Tat eines Mitarbeiters benennen und belegen, sondern lediglich den Verstoß gegen die DS-GVO. Gleichzeitig werden Führungs- und Leitungspersonen, indem die Haftung unmittelbar dem Unternehmen zugewiesenen wird, entlastet.
Die Position des LG Berlin
Das LG Berlin hat dem nun ausdrücklich widersprochen. Auffällig ist, dass sich das Gericht intensiv mit den Argumenten aus Bonn befasst hat, das Urteil aus Berlin liest sich daher fast wie eine Entscheidungsanmerkung. So beziehe sich ErwG 150 lediglich auf den Bußgeldrahmen, nicht jedoch auf die Frage nach den Voraussetzungen der Bebußbarkeit juristischer Personen. Zudem seien Kartell- und Datenschutzrecht nicht vergleichbar, da das supranationale Kartellrecht von einer europäischen Behörde (der europäischen Kommission) und nicht von nationalen Aufsichtsbehörden vollzogen werde. Dementsprechend wendet das LG Berlin nicht die Haftungsprinzipien aus dem Kartellrecht, sondern die nationalen Vorschriften zur Bebußbarkeit juristischer Personen und damit §§ 9, 30, 130 OWiG an. Nach diesen kann die jur. Person im Bußgeldverfahren nur sog. Nebenbetroffene sein, nicht selbst Täter einer Ordnungswidrigkeit (sog. Rechtsträgerprinzip). Dementsprechend ist im Bußgeldbescheid der handelnde Mitarbeiter ebenso wie Tathandlung und Tatzeitpunkt zu benennen und zu beweisen. Für eine Geldbuße reicht zudem nicht das Verhalten irgendeines Mitarbeiters des Unternehmens, sondern nur das Verhalten von Personen in Führungs- oder Aufsichtspositionen. Diese haften jedoch, auch für Aufsichtspflichtverletzungen, unmittelbar. Die Sichtweise des LG Berlin erhöht also die formalen Anforderungen an einen Bescheid und den Ermittlungsaufwand der Behörde auf der einen Seite, auf der anderen Seite begründet sie auch eine unmittelbare Haftung von Führungs- oder Aufsichtspersonen sowie dem Unternehmensinhaber.
Ausblick
Wie sich der Streit entwickeln wird, ist schwer vorherzusagen. Das LG Berlin hat zwar streitbare, aber durchdachte Argumente vorgetragen, die Rechtsprechung und Praxis sicherlich beeinflussen werden. Auf der anderen Seite stehen die Aufsichtsbehörden, die bisher nicht von ihren Positionierungen abgewichen sind und von einem erheblichen Teil der Literatur gestützt werden. Rechtssicherheit kann letztlich nur eine höchstrichterliche Entscheidung bringen. Darüber, wann diese zu erwarten ist, lässt sich nur spekulieren. Mit einer Entscheidung vor Jahresende dürfte aber nicht zu rechnen sein.
Weiterführende Hinweise:
Schwartmann/Burkhardt Vorbeugender verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz zur Abwehr drohender Bußgeldverfahren im Datenschutzrecht, 2021.
https://www.gdd.de/aktuelles/startseite/gutachten-zum-vorbeugenden-rechtsschutz-bei-bussgeldern
04.03.2021
Professor Dr. Christian-Henner Hentsch M.A., LL.M.; Professor für Urheber- und Medienrecht an der TH Köln
Doppelregulierung im Jugendschutzrecht
Morgen wird der Deutsche Bundestag nach fast 20 Jahren eine Reform des Jugendschutzgesetzes[1] beschließen. Seit 2003 hat sich die Medienlandschaft grundlegend geändert, und Kinder und Jugendliche können über das Internet und unterschiedliche Endgeräte einfacher denn je auf jugendgefährdende Inhalte zugreifen.[2] Entsprechend ist die Bedeutung des Jugendschutzrechts gewachsen, und die Forschungsstelle hat daher auch das Jugendschutzrecht in den Mittelpunkt der Eröffnungsveranstaltung[3] des Masterstudiengangs Medienrecht und Medienwirtschaft am 21. Dezember 2020 gerückt.
So wichtig dieses Thema ist, umso enttäuschender ist nun die Reform. Statt des angekündigten großen Wurfs, der für einen konvergenten, modernen und international anschlussfähigen Jugendschutz dringend nötig ist, verheddert sich der Gesetzentwurf im Dickicht der Bund-Länder-Kompetenzen und schafft mit einer neuen Bundesbehörde nur noch mehr Zuständigkeitswirrwarr. Bestenfalls hilft das Kindern und Eltern nicht weiter. Problematisch sind aber die am letzten Wochenende unter hohem Zeitdruck unter Formulierungshilfe des Ministeriums und ohne Einbeziehung von Eltern, Kindern oder Anbietern eingefügten Ergänzungen.
So sieht die Beschlussempfehlung[4] des Bundestagsausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in § 10b Abs. 2 und 3 JuSchG vor, dass künftig bei der Vergabe von Alterskennzeichen für Filme und Computerspiele Risiken für die persönliche Integrität von Kindern und Jugendlichen, die im Rahmen der Nutzung des Mediums auftreten können, angemessen zu berücksichtigen sind. Regelbeispiele werden nun nicht mehr nur in der Gesetzesbegründung erwähnt, sondern explizit in § 10b Abs. 3 Satz 2 JuSchG aufgezählt. Neben Risiken durch Kommunikations- und Kontaktfunktionen (Chats) werden insbesondere „Kauffunktionen“, die Weitergabe von Daten und werbende Verweise auf andere Medien (Trailer) genannt. Sofern Anbieter diese Risiken nicht mit so genannten Deskriptoren kennzeichnen, kann eine Gesamtbeurteilung bei der Alterskennzeichnung dazu führen, dass unabhängig vom Inhalt eine höhere Altersfreigabe empfohlen wird, so dass Kinder und Jugendliche auch bei ungefährlichen Inhalten nicht mehr auf diese Angebote zugreifen können. Kurzum: Kinder und Jugendliche sollen Angebote mit Interaktionsrisiken und ohne Warnhinweis nicht mehr nutzen dürfen. Damit entwickelt sich das Jugendschutzrecht zu einem Sonder-Verbraucherschutzrecht, das zu Doppelregulierungen führt.
Mit „Kauffunktionen“ sind wohl vor allem Mikrotransaktionen in Computerspielen gemeint. Spieler können sich meist gegen geringe Beträge besondere Ausrüstung (Skins) oder Reittiere (Mounts) oder auch besondere Spielcharaktere kaufen, die meist eher schmückend sind und nicht für die Erreichung des Spielziels erforderlich sind. Gefährdet ist hier also nicht die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen, sondern lediglich deren Geldbeutel oder der der Eltern. Dafür gibt es aber im BGB schon seit mehr als 120 Jahren einen bewährten Schutzmechanismus – den Taschengeldparagrafen. Sofern also ein Kind ohne Erlaubnis der Eltern mehr als etwa 10 oder 20 Euro verspielt, muss das Geld zurückerstattet werden. Damit stellt sich also die Frage, ob über die AGB hinaus noch ein zusätzlicher Hinweis auf diese „Gefahr“ erforderlich ist. Noch dazu wird durch technische Schutzmaßnahmen den Kindern sogar die Möglichkeit genommen, ihr Taschengeld so auszugeben, wie sie es möchten. Die Kinder werden faktisch in ihrer bislang rechtlich abgesicherten Entscheidungsfreiheit beschränkt, ob sie sich von ihrem Taschengeld Süßigkeiten, eine Kinderzeitschrift oder einen besonderen Skin in ihrem Lieblingscomputerspiel kaufen wollen.
Mit der datenschutzrechtlich ungewöhnlich formulierten „Weitergabe von Bestands- und Nutzungsdaten ohne Einwilligung an Dritte“ soll wohl das Risiko von Profiling und Tracking adressiert werden. Auch hier handelt es sich um eine Doppelregulierung, denn die DS-GVO regelt bereits die Verarbeitung von personenbezogenen Daten und sieht sowohl eine umfassende Datenschutzerklärung als auch besondere Vorgaben für die Einwilligung Minderjähriger vor (Art. 8 DS-GVO). Für Cookies hat zuletzt der EuGH entschieden[5], dass für so genannte funktionale Cookies keine Einwilligung erforderlich ist. Damit ist die Regelung im JuSchG nicht nur doppelregulierend, sondern sogar konträr zur DS-GVO. Im Übrigen gibt es wohl bei allen Online-Angeboten schon allein aus Sicherheitsgründen oder für Bezahldienstleister funktionale Cookies. Dies bedeutet eine faktische Hinweispflicht für alle Angebote – und seien sie noch so datenfreundlich. Damit wird jeder Hinweis in der Praxis wertlos, weil er keine Entscheidungshilfe darstellen kann.
Das gänzlich neu hinzugekommene Risiko nicht altersgerechter Kaufappelle[6] insbesondere durch werbende Verweise auf andere Medien zielt laut Begründung auf „Werbevorspanne wie Trailer“ ab, wobei der beworbene Film oder das Spiel eine höhere Alterskennzeichnung hat als das Spiel oder der Film, in dessen Rahmen der Trailer eingebunden ist. Dies soll auch für Kinovorführungen gelten. Diese vorher im Gesetzgebungsvorhaben nicht diskutierte Ergänzung kann dazu führen, dass bei einem Film wie beispielsweise einer Dokumentation oder einer Romanze, welche sich eindeutig an Erwachsene richtet, aber nicht entwicklungsbeeinträchtigend ist, keine Vorschau auf einen Blockbuster mit der Altersfreigabe 12 geschaltet werden kann, auch wenn die Vorschau selbst sogar nicht entwicklungsbeeinträchtigend ist. Abgesehen von der Sinnhaftigkeit findet auch hier eine Doppelregulierung statt, weil Werbung grundsätzlich vor allem Im UWG bzw. Medienstaatsvertrag[7] reguliert wird und sich mit den verbotenen Kaufappellen abseits der zugrundeliegenden EU-Richtlinien zu unlauteren Geschäftspraktiken und zu Audiovisuellen Mediendiensten hier eine Sonder-Werberegulierung entwickelt, die nur schwer mit dem angestrebten Binnenmarkt vereinbar ist.
Neben diesen drei offensichtlichen Beispielen von Doppelregulierung sind die Folgen einer Berücksichtigung dieser so genannten Interaktionsrisiken auch mit Blick auf die aktuellen Debatten zum Overblocking ein absoluter Sonderweg. So wird gerade im Urheberrecht diskutiert, wie Uploadfilter möglichst ausgeschlossen werden und das Löschen und Sperren von zulässigen Inhalten verhindert werden kann – dazu mehr in meinem Blogbeitrag vor einem Monat.[8] Und auch beim Netzwerkdurchsetzungsgesetz wurde nach Wegen gesucht, wie Hasskriminalität bekämpft werden kann, ohne die Meinungsfreiheit unverhältnismäßig einzuschränken. In beiden Fällen wird oft genug staatliche Zensur behauptet, auch wenn es hier um klar verbotene Inhalte geht. Im neuen Jugendschutzgesetz wurden all diese Bedenken bislang nicht berücksichtigt – zu Lasten von Kindern und Jugendlichen, für die das Grundrecht auf Informationsfreiheit natürlich auch gilt. Das Familienministerium fordert einerseits die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz[9], bescheidet aber gleichzeitig durch die hier aufgezeigten pauschalen und teils untauglichen Verbote deren fundamentalen Grundrechte. Bislang galt immer, dass der Staat über den Jugendschutz lediglich bewertet, welche Inhalte entwicklungsbeeinträchtigend sind. Mit den Regelungen führt die Einbeziehung von Interaktionsrisiken in die Alterskennzeichen aber zu einer Vermischung von hilfreichen Bewertungen und staatlichen Werbeverboten und dem Verbot von Geschäftsmodellen, die in einer Interessensabwägung mit der aktiven und passiven Informationsfreiheit sowie teilweise mit der Kunstfreiheit in vielen Fällen unverhältnismäßig sein werden und damit zu massenhaftem Overblocking führen.
All dies zeigt, dass sich die Familienpolitiker für eine Analyse des mittlerweile hochkomplexen deutschen Jugendschutzrechts und erst recht mit der Einfügung dieser kurzfristigen Nachbesserungen mehr Zeit hätten nehmen sollen. Die Formulierungshilfen sind eben nicht in einem Verfassungsministerium geschrieben worden, in dem tagtäglich Grundrechte gegeneinander abwogen werden, sondern in einem Ministerium, das vor allem den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern soll und dazu Initiativen startet, kommuniziert und vor allem Geld ausgibt. Ganz offensichtlich sind verbraucherschutzrechtliche Regelungen zur Wahrung der Einheit der Rechtsordnung jedenfalls besser im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz aufgehoben, datenschutzrechtliche im federführenden Bundesministerium des Innern und der konvergente und zukunftsfähige Jugendschutz wohl besser bei den Staatskanzleien der Länder.
[1] Gesetzentwurf: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/19/249/1924909.pdf; eine konsolidierte Fassung ohne die Änderungen im parlamentarischen Verfahren findet sich hier: https://spielerecht.de/wp-content/uploads/RefE-JuSchG-Stand-10-Feb-2020-konsolidierte-Fassung.pdf.
[2] Ausführlich zu den aktuellen jugendschutzrechtlichen Entwicklungen und rechtlichen Herausforderungen die Beilage zur MMR 8/2020, die von der Forschungsstelle mitherausgegeben wird. Einführend Hentsch/v. Petersdorff, Gesetzlicher Jugendschutz in der Games-Branche, MMR-Beilage 8/2020, 3-8.
[3] Tagungsbericht und Veranstaltungsprogramm: https://www.medienrecht.th-koeln.de/2020/12/03/medienrecht-trifft-medienwirtschaft-digital/.
[4] Beschlussempfehlung mit Änderungen: https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/272/1927289.pdf.
[5] EuGH in Sachen Planet49: http://curia.europa.eu/juris/liste.jsf?language=de&num=C-673/17.
[6] Zu Kaufappellen nach § 6 JMStV vgl. auch Schwartmann/Ohr, in: Bornemann/Erdemir, JMStV, § 6.
[7] Der neue Medienstaatsvertrag ersetzt seit dem 7. November 2020 den Rundfunkstaatsvertrag: https://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/MStV/true.
[8] Hierzu auch mein Blog-Beitrag vor einem Monat: https://www.medienrecht.th-koeln.de/2021/02/01/blog-der-forschungsstelle/.
[9] Initiative des BMFSFJ: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/kinder-und-jugend/kinderrechte?view=.
22.02.2021
Dr. Stephan Bücker, Lehrbeauftragter und Rechtsanwalt der Kanzlei Straßer Ventroni Freytag, Standort Köln
Guns ‘N’ Rosé – Die Craft Beer Industrie und ihr Branding
Der schmale Grat zwischen Innovation und dem Diebstahl von geistigem Eigentum
Die Craft Beer-Bewegung stammt ursprünglich aus den USA, wo sich in den 1980er Jahren zumeist junge Brauer gegen den Einheitstrend der Bierindustrie wandten. In Deutschland gründetet sich Anfang 2017 aus der deutschen Craft-Szene der Verband Deutscher Kreativbrauer e. V. Den Brauern geht es beim Craft Beer vor allem darum, intensivere Geschmäcke, außergewöhnliche Bierspezialitäten sowie alte (zum Beispiel Weizenbock, Märzen) und ungewöhnliche (zum Beispiel Ale, India Pale Ale) Biersorten zu brauen. Kurz gesagt: Craftbiere sollen sich vom Massenmarkt abheben.
Dabei wollen sich die Brauereien nicht nur durch ihre speziellen Biersorten vom Rest des Marktes abheben, sondern zeigen sich auch bei der Markenfindung Ihrer Biere als besonders kreativ. Nicht selten bedienen sie sich historischer Persönlichkeiten, Zeichen der Popkultur oder gar nordischer Götternamen. So ist die wohl bekannteste Craft Beer Marke in Deutschland nach keinem geringeren als dem bekanntesten deutschen Seeräuber Klaus Störtebeker benannt. Die Wacken Brauerei hat verschiedene Marken beim Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) auf sich registrieren lassen, darunter Namen wie „Mjölnir“ (Name des Hammers des nordischen Donnergotts Thor), „Ragnarök“ (die Sage vom Untergang der Götter (Weltuntergang) in der Nordischen Mythologie), „Sleipnir“ (Pferd von Odin), „Tyr“ (Kriegsgott) und „Baldur“ (Gott des Lichts).
Die Rockband „Guns N’ Roses“ wehrte sich 2019 gegen eine Markeneintragung der in Colorado ansässigen Brauerei Oskar Blues. Diese hatte das Zeichen „Guns ‘N’ Rosé“ beim amerikanischen Markenamt (USPTO) auf sich eintragen lassen, mit dem Argument, die Rockband habe sich die Marke nicht für alkoholische Getränke schützen lassen. Nachdem die Band daraufhin offiziell eine Klage auf Löschung der Marke eingereicht hatte, einigte man sich später auf einen Vergleich.
Die oben beschriebenen Aktivitäten der Craft Beer Szene zeigt, dass die Beteiligten sich hier auf einem schmalen Grat zwischen Innovation bzw. kreativer Markenführung und dem Diebstahl von geistigem Eigentum befinden. Wie emotionalisiert diese Auseinandersetzung im Einzelfall geführt wird, zeigt der Fall der Wacken Brauerei. So titelte die Bild-Zeitung: „Dänische Brauer schäumen vor Wut! Wacken Brauerei will Dänen ihr Bier verbieten!“
Die dänischen Brauer sahen sich ihrer Identität beraubt. Sie seien die Nachfahren der Wikinger. Die nordischen Götter gehörten ihnen. Die Wacken Brauerei sieht dies allerdings anders. Die „nordische“ Mythologie sei eigentlich die germanische Mythologie, die das gemeinsame Erbe aller germanischen Völker sei, so die Brauerei. Das Dorf Wacken befände sich darüber hinaus in Schleswig-Holstein (Norddeutschland). Dieser Ort war 400 Jahre lang unter dänischer Herrschaft. Eine der größten Wikingerstädte „Hedeby“ (Haithabu) sei nur 55 km entfernt.
Sicher kann man trefflich darüber streiten, ob das Verhalten der Brauereien moralisch korrekt ist, und die Emotionen der dänischen Brauer sind sicherlich auch verständlich. Aus markenrechtlicher Sicht hat sich die Wacken Brauerei in diesem Fall aber nichts vorzuwerfen.
Denn diese durfte die Götternamen als solche für die von ihren vertriebenen Bieren registrieren lassen. Für die Frage der Rechtmäßigkeit der Registrierung kommt es dabei auf die klassischen markenrechtlichen Grundsätze an, d.h. der Eintragung dürfen keine absoluten Schutzhindernisse im Sinne von § 8 MarkenG bzw. Art. 7 Unionsmarkenverordnung (UMV) entgegenstehen.
Unterscheidungskraft im Sinne des § 8 Abs. 2 Nr. 1 MarkenG (Art. 7 Abs. 1 b.) UMV) haben die Götternamen, denn sie sind geeignet, vom Verkehr als Unterscheidungsmittel für das hierunter vertriebene Bier aufgefasst zu werden.
Zwar wird teilweise die Auffassung vertreten, dass die Namen besonders bedeutender historischer Persönlichkeiten Teil des kulturellen Erbes der Allgemeinheit seien und ihnen daher vom Verkehr in der Regel kein Markencharakter zugeordnet werde. Eine derartige Generalisierung im Hinblick auf die Unterscheidungskraft der Namen historischer Personen wird jedoch den Grundsätzen der EuGH-Rechtsprechung nicht gerecht. Denn hiernach müsste eine Monopolisierung des Namens zu einer Beeinträchtigung der berechtigten Interessen der Mitbewerber des Markeninhabers an der Verfügbarkeit des Namens für die fraglichen Produkte führen. Es ist aber nicht ersichtlich, warum die Tatsache, dass ein bestimmter Göttername nicht mehr zur Kennzeichnung eines Bieres genutzt werden kann, zu einer Beeinträchtigung der Interessen der Mitbewerber führen soll.
Es besteht auch kein Freihaltebedürfnis an den Götternamen nach § 8 II Nr. 2 MarkenG (Art. 7 Abs. 1 c.) UMV). Ein solches steht der Markeneintragung eines Persönlichkeitsmerkmals nur entgegen, wenn das Zeichen zur Beschreibung der Produkte erforderlich ist, da dann das Interesse der Mitbewerber des Anmelders an der Benutzung des Zeichens zur Beschreibung ihrer eigenen Waren oder Dienstleistungen die Monopolisierung desselben zu Gunsten eines Einzelnen verbietet. Dies ist hier gerade nicht der Fall.
In Bezug auf die Anmeldung von Namen historischer Personen wird bisweilen ein Entgegenstehen einer „Gemein-” bzw. „Kulturfreiheit” als Gegenstand der öffentlichen Ordnung diskutiert. Das Eingreifen des Schutzhindernisses des § 8 II Nr. 5 MarkenG (Art. 7 Abs. 1 f.) UMV) ist aber auf die Fälle beschränkt, in denen ein Verstoß gegen die guten Sitten (z.B. durch herabwürdigende oder anstößige Wirkung) vorliegt. Auch dies ist hier nicht gegeben.
Selbst wenn die dänischen Brauer die Götternamen schon vor der Registrierung der Marken durch die Wacken Brauerei für ihre Biere verwendet hätten, würde sie dies jetzt nicht mehr schützen. Denn wer auf eine Markenanmeldung verzichtet, riskiert, dass ein Dritter das gleichlautende Markenzeichen später auf sich registriert und diesen dann zur Unterlassung der weiteren Nutzung auffordert. Der Erste zu sein, der die Marke benutzt, führt nicht zu einem Bestandsschutz. Nur in seltenen Fällen ist eine nicht eingetragene Marke als sog. Benutzungsmarke geschützt. Diese entsteht ohne Registrierung durch Benutzung im geschäftlichen Verkehr zur Kennzeichnung von Waren und Dienstleistungen, wenn sie dabei innerhalb beteiligter Verkehrskreise sogenannte Verkehrsgeltung als Marke erlangt hat. Für die Feststellung der Verkehrsgeltung reicht nicht allein die Bekanntgabe von Umsätzen, Marktanteilen, Werbeaufwendungen etc. aus, vielmehr erfolgt sie regelmäßig durch Meinungsforschungsgutachten. Als ausreichend wird meist ein Zuordnungsgrad von 20-25% angesehen.
Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass die Eintragung von bekannten Götternamen aus der germanischen Mythologie als unbefriedigende oder missbilligenswerte Situation empfunden werden kann. Sie entspricht jedoch der gegenwärtigen Gesetzeslage. Andere Ergebnisse ließen sich nur durch ein Tätigwerden des Gesetzgebers erreichen. Denn dann müsste man einen „Kulturgüterschutz” festlegen, der keine markenrechtliche, sondern vielmehr eine (kultur-) politische Lösung hervorrufen würde.
Im Fall der Band „Guns N’ Roses“ ist der Fall jedoch anders zu beurteilen. Hier lag m.E. eine klare Verwechslungsgefahr mit dem später registrierten Zeichen „Guns ‘N’ Rosé“ vor. Die Verwechslungsgefahr ist dabei nach ständiger Rechtsprechung anhand der Kennzeichnungskraft des älteren Zeichens, der Waren- oder Dienstleistungsähnlichkeit und der Zeichenähnlichkeit unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu prüfen, wobei diese drei Parameter untereinander in Wechselwirkung stehen. Für die Verwechslungsgefahr genügt es hier, dass die Zeichen im Hinblick auf die schriftbildliche, begriffliche und klangliche Zeichenähnlichkeit sehr nah beieinander sind und das ältere Zeichen hier eine hohe Kennzeichnungskraft hat. Die Tatsache, dass das ältere Zeichen in diesem Fall nicht für alkoholische Getränke geschützt gewesen ist, war daher nicht mehr entscheidend.
Die oben beschriebenen Fälle sind nur einige Beispiele aus der Vergangenheit. Die Craft Beer Szene verändert den Markt in vielerlei Hinsicht, und es sollte ihr der Innovationsdrang auch nicht genommen werden. Bei sinkenden Bierkonsum in den westlichen Industrieländern wird es für Brauer in den Märkten immer enger. Modernes Marketing kann helfen, den Absatz anzukurbeln. Mit der Craft Beer Bewegung hat sich das traditionelle Marketingumfeld verändert. Das beginnt bei der Plakatierung und mündet in hippe Flyer, coole Etiketten und schmucke Aufkleber. Selbst traditionelle Werbemittel wie Flaschenöffner und Bierdeckel kommen nicht mehr mit antiquierten Motiven, sondern mit frischem Design.
Dennoch sollten die hippen Brauer eins nicht vergessen: Geistiges Eigentum verdient seit jeher einen besonderen Schutz, und ein Verstoß kann teuer werden. Nicht nur der Vertrieb der Waren kann dann vom Rechteinhaber untersagt werden, sondern auch die Gewinne, die der Verletze durch den Verkauf der Waren erwirtschaftet hat, können von diesem herausverlangt werden. Die einmal teuer aufgebaute Marke ist darüber hinaus verloren. Den Brauereien ist daher dringend zu empfehlen, sich vor der Anmeldung eines Zeichens als Marke rechtlich beraten zu lassen. Denn irgendwann schmeckt sonst auch das hippste Bier nicht mehr.
10.02.2021
Professor Dr. Christian-Henner Hentsch M.A., LL.M.; Professor für Urheber- und Medienrecht an der TH Köln
Der deutsche Sonderweg im Urheberrecht – ein konkreter Vorschlag zur verfassungs- und europarechtskonformen Ausgestaltung
Am vergangenen Mittwoch hat das Bundeskabinett den Regierungsentwurf zur Umsetzung der EU-Urheberrechtsrichtlinie beschlossen.[1] Der Bundestag wird in den nächsten Wochen die größte Reform des Urheberrechts seit mehr als 20 Jahren debattieren. Neben harmonisierten Schrankenregelungen für den Erhalt kulturellen Erbes, für Unterricht und Wissenschaft oder für Text- und Datamining, gemeinsamen Standards im Urhebervertragsrecht, einer Regelung zur Beteiligung der Buchverleger an den gesetzlichen Vergütungsansprüchen und der (Wieder-)einführung eines Presseleistungsschutzrechts geht es vor allem um die Verantwortung von Social-Media-Plattformen für den von ihren Nutzerinnen und Nutzern öffentlich zugänglich gemachten User generated content (UGC).
Die Forschungsstelle hat vor einem Jahr den ersten konkreten Vorschlag zur Umsetzung des Art. 17 der EU-Richtlinie veröffentlicht.[2] Die Grundstruktur unseres Stufenkonzepts wurde nun richtigerweise übernommen: Lizenzen werden erleichtert und dazu auch kollektive Lizenzen mit erweiterter Wirkung eingeführt, es werden neue Schranken geschaffen, die insbesondere Memes erlauben, und es werden auch prozedurale Maßnahmen vorgesehen, um Overblocking – das überschießende Löschen und Blockieren erlaubter Inhalte durch Uploadfilter – weitgehend auszuschließen. Im Ergebnis ist der Regierung mit dem Urheberrechts-Diensteanbieter-Gesetz (UrhDaG) zur Umsetzung des Art. 17 die Quadratur des Kreises zwischen den Interessen von Nutzerinnen und Nutzern, Plattformen, Verwertern und Urhebern ansatzweise gelungen.
Im Detail geht der Entwurf jedoch über die Vorgaben der Richtlinie[3] hinaus und beschreitet in vielen Punkten einen deutschen Sonderweg. Problematisch ist hier insbesondere die geplante Vermutungsregel in §§ 9, 10 UrhDaG, wonach geringfügige Nutzungen pauschal erlaubt werden. Als geringfügig gelten dabei immerhin bis zu 15 Sekunden Musik oder Film und bis zu 160 Zeichen eines Textes – ein TikTok-Post dauert 14 Sekunden und ein Snippet bei Google-News ist nicht länger als 110 Zeichen. Verfassungsrechtlich und europarechtlich bedenklich ist hier die willkürliche Grenze, die dem Einzelfall nicht gerecht wird. Juristische Interessensabwägungen, wie sie dem Urheberrecht als geronnenes Verfassungsrecht immanent sind, können durch diese rein technisch gedachte Schwelle nicht abgebildet werden.
Die Problematik wird gerade bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen besonders gut greifbar. Die Veröffentlichung eines 15sekündigen Nutzer-Video bei YouTube von einem Parteitag, bei dem der Auftritt des Bundesvorsitzenden mit dem Song „Hier kommt Alex“ von den Toten Hosen unterlegt wird, könnte damit trotz gegenteiliger politischer Ansichten des Urhebers nicht verhindert werden. Urheberrechtlich wäre dies zwar eine Entstellung, die aber wegen der Vermutungsregel ins Leere läuft. Der Urheber müsste millionenfache Aufrufe zumindest bis zum Abschluss eines Beschwerdeverfahrens hinnehmen – und gegebenenfalls immer wieder, wenn das Video wiederholt von anderen Nutzern hochgeladen wird. Damit wird das Urheberpersönlichkeitsrecht unverhältnismäßig beeinträchtigt und der Wesensgehalt – urheberrechtlich gilt hier der so genannte Dreistufentest – ausgehöhlt.[4]
Um das unumstrittene Ziel der Verhinderung von Overblocking verfassungs- und europarechtlich zukunftsfest zu gestalten, muss diese pauschale Bagatellschranke zwingend um eine Verhältnismäßigkeitsklausel ergänzt werden. Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat dies bei der neuen Pastiche-Schranke für Memes bereits vorbildlich geregelt und in § 51a UrhG-E nachträglich die Einschränkung „sofern die Nutzung in ihrem Umfang durch den besonderen Zweck gerechtfertigt ist“ hinzugefügt. Auch in § 9 UrhDaG sollte im parlamentarischen Verfahren nun entsprechend ein neuer Abs. 4 ergänzt werden: „(4) Absatz 1 ist nicht anzuwenden, wenn berechtigte Interessen des Rechtsinhabers entgegenstehen.“ So wäre der Regierungsentwurf zumindest verfassungs- und europarechtskonform.
[1]https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente/RegE_Gesetz_Anpassung_Urheberrecht_digitaler_Binnenmarkt.pdf;jsessionid=5352A7768C3A1C55BE64DCB738CF27DE.2_cid334?__blob=publicationFile&v=5.
[2] https://rsw.beck.de/rsw/upload/MMR/2020-03-03_Umsetzungsvorschlag_Art._17.pdf, veröffentlicht auch in Schwartmann/Hentsch, MMR 2020, 207ff.
[3] Richtlinie (EU) 2019/790 des europäischen Parlamentes und des Rates vom 17. April 2019, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32019L0790.
[4]Vgl. hierzu Schwartmann/Hentsch, Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Urheberrechtsdebatte, ZUM 2012, 760ff.
01.02.2021
Prof. Dr. Rolf Schwartmann, Leiter der Forschungsstelle für Medienrecht an der TH Köln; Vorsitzender der Gesellschaft für Datenschutz und Datensicherheit (GDD) e.V.
Ein Trojanisches Pferd für die Meinungsvielfalt
Das Bundesverfassungsgericht hat die Meinungsfreiheit klug und weitsichtig als die Grundlage jeder Freiheit bezeichnet. Meinungsfreiheit setzt Meinungsvielfalt voraus. Denn nur wer sich frei zwischen vielen unabhängigen Stimmen entscheiden kann, der kann sich frei eine Meinung bilden. Die Summe dieser Meinungen mündet in Wahlentscheidungen. So konstituiert und erneuert sich die repräsentative Demokratie des Grundgesetzes. Die Mechanismen sozialer Netzwerke gefährden diesen Grundpfeiler der Demokratie.
Das in Art. 5 Grundgesetz angelegte Wechselspiel von Meinungsäußerungsfreiheit auf der einen Seite und der Freiheit der Bürger sich aus allgemein zugänglichen Quellen frei und ungehindert informieren zu können auf der anderen Seite, macht nach der Konzeption des Grundgesetzes Meinungsvielfalt möglich. Die Vielfalt der Meinungen entsteht in vielen Köpfen. In Europa und namentlich in Deutschland existiert eine breite regionale Vielfalt, institutionalisiert in Presse und Rundfunk. Diese Vielfalt der Meinungen stabilisiert unsere Demokratie und soll sie vor Demokratiegefahren schützen, die das Pressesterben in den USA uns vor Augen führt.
Die Sicherung der Meinungsvielfalt ist ein Verfassungsgebot
Der Staat hat die Vielfalt der Meinungen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aktiv zu schützen. In der Verfassungswirklichkeit unter der Ägide Sozialer Netzwerke und Suchmaschinen ist der freie Meinungsbildungsprozess gestört. Was in Suchanfragen an oberster Stelle angezeigt wird und was in die Newsfeeds sozialer Netzwerke mit Priorität einfließt, ist kein Resultat eines freien Prozesses. Es basiert auf der Auswertung von Nutzerinteressen, die die Anbieter der Netzwerke über den permanenten Rückkanal zu den Menschen hinter vielen Endgeräten haben. Er ist technisch notwendigerweise durch die Programmierer der Algorithmen beeinflusst, die unter der Oberaufsicht der Chefs der Datendienste allen das Wort geben, die Nutzern etwas verkaufen wollen. Dass sie zugleich eigene oder bezahlte politische Interessen verfolgen, ist nicht erwiesen. Die Gefahr, dass dies geschieht oder geschehen kann, ist aber hoch. Zumindest schaffen die Herrscher der Algorithmen Fakten, die – denkt man an die Sperre von Politikern – die Kommunikation auf der Welt verändern.[1]
Facebook räumt politische Einflussnahme freimütig ein
Das Netz gibt jedem Einzelnen über Soziale Medien eine Stimme. Allein hat sie keine Macht. Erst über das Bündeln und Präsentieren – sprich das Ventilieren und Steuern – der Stimmen durch Medienintermediäre, die kein Gesamtangebot im Sinn haben (dürfen), entsteht eine kritische und brisante Masse. Je nach dem, was die Programmierer des Algorithmus entscheiden und welche Öffentlichkeit sich in den von ihnen schon aus technischen Gründen beherrschten Kommunikationsräumen findet und erreicht werden soll, werden einzelne Aussagen von Schneeflocken zu Lawinen.
Die Gefahren für die Meinungsvielfalt realisieren sich im Großen und im Kleinen
Die Gefahren werden nach dem Sturm auf das Kapitol, das die USA in gewisser Weise in die Nähe eines gescheiterten Staates rücken, breit diskutiert. Aber es gibt auch subtile Gefahren für die Vielfalt, die von den Sozialen Netzwerken ausgehen. Junge Menschen sind mit Newsfeeds aufgewachsen und auch ältere rezipieren Nachricht in deren Takt. Es ist mühsam und nicht mehr zeitgemäß, Informationen unmittelbar aus den Quellen der weltweit immer notleidender werdenden zahlreichen Presseerzeugnissen zu beziehen. Diese Mechanismen
dürften auch vor (jungen) Journalisten nicht Halt machen. Die Meinungstrends bei Twitter, Facebook und Google & Co sind schon aus technischen Gründen per Programmierung kuratierte Meinungstrends. Da sie den Mainstream vermeintlich objektiv spiegeln, liegt es nah, die Vorauswahl der Algorithmen zu übernehmen. Dass es sich dabei nicht um ein von den Anbietern geschickt programmiertes Trojanisches Pferd in der Meinungsvielfalt handelt, ist weder belegt noch widerlegt. Realistisch dürfte aber die Beobachtung sein, dass Twitter & Co durch ihre Bündelungsfunktion Themen setzen. Die Einflussnahme räumt jedenfalls Facebook freimütig ein. Weil sie dem Chef nicht geheuer ist, will man bei der Empfehlung von „Gruppen, die dich interessieren könnten“, also bei Empfehlung von politischen Diskussionsforen zurückhaltend sein. Im September hatte Facebook bekannt gegeben, dass es binnen einem Jahr mehr als eine Million Gruppen wegen Verstößen gegen Regeln des Netzwerks entfernt hatte. Zuckerberg sagte nun, es gebe darüber hinaus viele Gruppen, bei denen Facebook seine Nutzer möglicherweise nicht dazu ermutigen wolle, ihnen beizutreten, heißt es bei Spiegel Online.[2] Führt man sich vor Augen, dass Google Australien offen mit dem Abzug seines Suchdienstes für den Fall droht, dass die Nutzung von Medieninhalten vergütet werden muss, zeigt sich, wozu Meinungsgiganten bereit und in der Lage sind. Die Staaten dürfen sich davon nicht unter Druck setzen lassen und können eine Welt ohne Google-Suche aushalten. Was sie nicht akzeptieren dürfen, ist eine feindliche Übernahme der Medien- und Meinungsvielfalt.
Meinungsfreiheit vor Medienintermediären schützen
Das darf nicht passieren, denn: „Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt. Es ist im gewissen Sinne die Grundlage jeder Freiheit überhaupt“.[3] Dieses Zitat aus dem Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgericht vom 15.1.1958 ziert die Medaille von Heribert Calleen[4], die jährlich als Preis des Beirats der Kölner Forschungsstelle für herausragende Leistungen im Studiengang „Medienrecht und Medienwirtschaft“ der Kölner Forschungsstelle für Medienrecht vergeben wird. Es ist Mahnung und Auftrag für jeden, damit die Meinungsfreiheit auch in Zeiten von Medienintermediären den Schutz des Grundgesetzes behält.